Ich habe mich bei Twitter im April 2007 angemeldet. Ich bin der fünfmillionenvierhundertsechstausendzweihundertzweiundneunzigste Nutzer (heute hat Twitter 319 Millionen User). Damals war Twitter gerade mal ein Jahr alt. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst, dass ich Twitter schon über 10 Jahre nutze. Ich kann mich sogar noch daran erinnern, wie ich auf Twitter aufmerksam geworden bin. Und zwar durch einen kleinen Artikel namens Status Updates für die Welt bei Heise Online. Beim Lesen habe ich mich natürlich gefragt, was der Scheiß jetzt soll und mich danach angemeldet. Mein erster Tweet ist mir heute noch peinlich und später habe ich ihn wieder gelöscht.
Die ersten Jahre
Zu dieser Zeit gab es auf Twitter noch keine Hashtags, Replies oder Retweets. Man schrieb die Tweets entweder im Browser auf dem Computer oder per SMS mit dem Handy. Smartphones gab es damals noch nicht. Das erste iPhone kam erst im November 2007 auf den europäischen Markt und auf iOS1 konnte man auch noch keine Apps installieren. Unter diesen Umständen konnte Twitter wie viele andere Dienste auch seine Potentiale noch nicht richtig ausschöpfen. Mir hat sich der Sinn von Twitter auch erst sehr viel später erschlossen. Die ersten beiden Jahre habe ich eigentlich nur gelegentlich die Timelines der Anderen gelesen. Im Frühling 2009 habe ich mich dann langsam heran getastet und mehrmals im Monat einen Tweet geschrieben.
Damals hießen Likes noch Favs. Heute muss ich heute darüber schmunzeln, weil ich anfangs das Konzept des Favs überhaupt nicht verstanden hatte. Der Fav wurde graphisch als Stern dargestellt und das Wort ist eine verkürzte Form von Favorit. Und Favoriten assoziierte ich mit den Lesezeichen im Internet Explorer auf Windows. Entsprechend habe ich gedanklich den Zweck der Favoriten vom Internet Explorer auf Twitter übertragen. Und ich rätselte darüber, warum man Lesezeichen für Tweets anlegen sollte? Gibt es wirklich Leute, die so etwas tun? Die Idee des Favs war mir dann sofort schlüssig, als ich selbst den ersten Fav erhielt (das hat sich im Bauch so warm angefühlt). Heute gibt es auf Twitter keine Favs mehr, dafür kann man nun Tweets beherzen, was eigentlich auch viel schöner ist.
Das Hashtag als navigierbares Schlagwort feierte letztes Jahr im August seinen 10. Geburtstag. Das Konzept wurde zwar schon vorher in ähnlicher Weise auf anderen Medien verwendet, aber erst Twitter hat das Hashtag groß gemacht. Allerdings ist Twitter hier nicht selbst draufgekommen, sondern die Twitter Community hatte sich das Hashtag ausgedacht. Das Unternehmen hat das Hashtag dann später in den Dienst übernommen. Heute ist das Hashtag quasi so etwas wie ein eigener Nachrichtenkanal. Ich weiß nicht, ob Twitter damals eine Abteilung für Produktentwicklung hatte. Aber wenn ja, war das herausgeschmissenes Geld. Letztlich war es immer die Twitter Community, welche mit immer neuen Ideen glänzte und die Entwicklung von Twitter vorantrieb. Auch Replies (@) und Retweets (RT) wurden von den Nutzern erfunden und dann nachträglich in der Plattform integriert. In kleinen Schritten entstand ein ganzes Ökosystem von Diensten um Twitter herum. Twitter war eigentlich nur ein Datenspeicher, indem man Daten hineinpumpen oder anzapfen konnten. Twitter selbst hatte damals auch noch keine App. Die offizielle Twitter-App erschien erst 2010. Mein erster Twitter-Client war übrigens Tweetie (welches von Twitter gekauft und zur eigenen App umfunktioniert wurde).
In den ersten Jahren war Twitter wie ein Virus. Die Leute liebten es! Aber Twitter war damals auf diese Liebe gar nicht eingestellt und die Infrastruktur brach wegen dem großen Ansturm häufig zusammen. In solchen Momenten zeigte die Twitter-Homepage einen fliegenden Wal, den sogenannten Fail Whale. Den Fail Whale hatte Twitter auch nicht selbst gemalt. Twitter kaufte das Photo von einem ganz normalen Stock Image Dienst. Ursprünglich hieß das Motiv Lifting a Dreamer und war eigentlich für Postkarten gedacht. Gezeichnet hat es die Illustratorin Yiying Lu aus San Francisco. In der Community hat der Fail Whale schnell Kult-Status erreicht und das Motiv wurde oft künstlerisch neu interpretiert. Trotzdem ersetzte Twitter den Fail Whale im Sommer 2013 gegen irgendeine langweilige Fehlermeldung. Solche Entscheidungen sollten für Twitter systematisch werden. In den letzten Tage des Fail Whales habe ich mit dem Bloggen begonnen. Ich weiß nicht warum, aber wer bloggt, der tut ganz automatisch früher oder später auch twittern (so will es das Gesetz). Und so habe ich im Laufe des Jahres 2013 angefangen quasi täglich zu twittern.
Was ist Twitter?
Twittern heißt, man schreibt einen Tweet. Aber was ist das jetzt eigentlich genau, ein Tweet? Die Antwort scheint auf den ersten Blick recht einfach, es ist ein Text mit maximal 140 Zeichen. Jedoch ist diese Erklärung nur die halbe Wahrheit und ein Tweet ist tatsächlich viel komplexer als man gemeinhin denkt. Denn ein Tweet kann weitere Elemente wie Bilder, Galerien, Links, Hashtags, Umfragen, GEO-Daten oder Mentions enthalten. Es gibt verschiedene Typen von Tweets wie Replies, Quotes oder Retweets. Abhängig von den eingebetteten Elementen verändert sich auch dynamisch die Anzahl der verfügbaren Zeichen. Zusätzlich können viele Elemente ineinander verschachtelt werden. Ein Quote ist strenggenommen ein Tweet im Tweet. Das technische Datenmodell von Twitter ist richtig knifflig und treibt Programmierern schnell den Schweiß auf die Stirn. Neben dem offiziellen Twitter-Client gibt es eigentlich auch kaum eine App, welche die Informationsarchitektur eines Tweets formal vollständig abbildet.
Aber noch viel schwieriger ist eigentlich die Frage, was ist Twitter? Die Antwort konnte seltsamerweise bislang noch gar nicht allgemeingültig ausgehandelt werden. Wenn man das Wort Twitter ausspricht, entstehen in den Köpfen der Menschen völlig unterschiedliche Bilder. Es scheint beinah so, als ob sich Twitter in seiner Ganzheit nicht auf eine klar abgegrenzte Definition zurückführen lässt. Dieser Sachverhalt ist umso interessanter, weil sich der Tweet im Wesentlichen durch seine Begrenzung kennzeichnet. Twitter ist Nachrichtendienst sowie Kommunikationsplattform. Twitter ist aber auch Mikroblogging-Dienst und soziales Netzwerk. Und mit diesen vier Schablonen ist Twitter noch lange nicht vollständig erklärt.
Sogar innerhalb von Twitter weiß man irgendwie nicht so richtig, was man da mit Twitter erfunden hat. Das sehr empfehlenswerte Buch Twitter – Eine Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat von Nick Bilton gibt sehr interessante Einblicke in das Unternehmen. Es beschreibt die bilderbuchartige Reise von Twitter ausgehend von einem chaotischen Haufen von Anarchisten zu einem börsennotierten Unternehmen in nur wenigen Jahren. Selbst als sich Twitter als Medium schon längst etabliert hatte und einen Rekord nach dem anderen jagte, gab es in der Unternehmensleitung immer wieder hitzigen Streit darüber, wie Twitter denn nun zu verstehen wäre. Vor allem die einleitende Frage beim Schreiben eines neuen Tweets entfachte richtige Glaubenskämpfe. Die Aufforderung wurde entsprechend häufig vom Unternehmen ausgewechselt. Beispielsweise wurde sie im November 2009 von „Was tust du gerade?“ (Ich erzähle von mir) zu „Was passierte gerade?“ (Ich beobachte die Welt) geändert. Heute lautet der Appell etwas neutraler „Was gibt’s neues?“
Twitter hat in der Medienlandschaft eine beachtliche Relevanz erreicht. Immer wieder setzen einzelne Tweets oder Hashtag-Kampagnen gesellschaftliche Diskussionen in den Gang. Diese Eruptionen wirken häufig auf die traditionellen Medien und die Gesellschaft als Ganzes zurück. Twitter verleiht hierbei so viel Kraft, dass der Dienst in vielen Ländern zu Zeiten politischer Instabilität temporär abgeschaltet wird. Die Türkei ist hier das prominenteste Beispiel. Im Kontrast zu seiner Wirkmacht ist Twitter als Unternehmen überraschend klein geblieben. Twitter hat ungefähr 3500 Mitarbeiter, macht 2,5 Milliarden USD Umsatz und hat seit seiner Gründung noch kein einziges Geschäftsjahr mit Gewinn abgeschlossen. Im vorletzten Jahr betrug der Verlust rund 250 Millionen USD. Die Rating Agentur Standards & Poors bewertet die Bonität von Twitter mit BB- (Ramsch-Niveau). Im Vergleich dazu wirkt Facebook wie ein Unternehmen aus einem anderen Universum (17.000 Mitarbeiter, 28 Milliarden Umsatz, 2 Milliarden aktive Nutzer).
Ich selbst nutze Twitter vorwiegend als Plattform zum Bloggen im Kleinformat. Ich halte mir Gedanken fest. Ideen, die zu klein sind, um sie in einen größeren Zusammenhang zu bringen. Standpunkte, die nicht den Anspruch auf besondere Gültigkeit haben. Beobachtungen aus meinem Alltag heraus. Warum ich das tue, weiß ich nicht. Obwohl ich auf Twitter selten Replies schreibe, habe ich die Möglichkeiten des öffentlichem Dialoges zu schätzen gelernt. Wo sonst hat man die Möglichkeit derart unsichtbar fremden Menschen zuzuhören und sich bei Bedarf einzubringen? Man kann nicht nicht kommunizieren und auch Beherzungen senden kleine Botschaften aus. Selbst über Bande lässt sich ausgezeichnet an Dritte kommunizieren. Mir ist kein anderes Medium bekannt, welches derartig vielschichtige Kommunikation ermöglicht und entsprechend Kreativität fördert.
Liebe auf den zweiten Blick
Twitter hat jedoch mittlerweile durch Hate-Speech, Shitstorms und die allgegenwärtige Empörung viel von seinem Renommee verloren. Trotzdem wird Twitter von seinen regelmäßigen Nutzern immer noch sehr geschätzt. Mehrmals am Tag öffnet man die Timeline und gibt sich dem Rauschen hin. Interessanterweise finden im Kontrast dazu viele andere Menschen kein richtigen Zugang. Besonders in Deutschland fühlt man sich bei Twitter schon beinah wie eine unverstandene Minderheit. In meinem „echten“ Freundes- und Familienkreis gibt es vielleicht 3 regelmäßige Twitter-User. Facebook dagegen „haben“ fast alle. Ich kann das sogar nachvollziehen.
Vor ein paar Jahren habe ich zweitweise darüber nachgedacht, ein FAQ für Twitter zu schreiben. Als ich mich weiter mit der Idee beschäftigt habe, habe ich bei der Recherche im Netz aber recht schnell ein FAQ gefunden, welches meinen Vorstellungen sehr nahe kommt, und das Vorhaben somit wieder verworfen. Das FAQ heißt Twitter für Fortgeschrittene und wurde von Nicolai Levin in seinem Blog veröffentlicht. Wenn man das FAQ überfliegt, erkennt man schnell wie viele Facetten Twitter hat. Diese Vielfalt erschließt sich leider nicht von heute auf morgen. Die Potentiale werden erst nach längerer Nutzung erschlossen. Da können schon mal Monate ins Land ziehen. Aber irgendwann kommt der Moment, wo sich Twitter als erweiterte Realität wie eine zweite Ebene über die Wirklichkeit legt und diese Wirklichkeit mit noch mehr Wirklichkeit anreichert, auf neuen Ebenen erfahrbar macht und weitere Horizonte öffnet.
Aus dieser Unzugänglichkeit heraus und getrieben von dem ewigen Vergleich mit Facebook versucht Twitter schon seit Jahren den Dienst besser erklärbar zu machen und damit neue Nutzer zu gewinnen. Denn das Wachstum der ersten Jahre ist schon lange vorbei. Seitdem versucht Twitter fortlaufend, zurück auf die Erfolgsspur zu kommen. Dabei nimmt sich Twitter leider immer wieder Facebook als Beispiel, was aus meiner Sicht schon zum Kern des Problems führt, weil Facebook etwas völlig anderes ist und gar nicht mit Twitter vergleichbar. Nicht wenige Maßnahmen, welche Twitter der Community zur Diskussion stellte, lösten unmittelbar einen Shitstorm aus. Beispielhaft war der Versuch die Tweets auf 1800 Zeichen zu erhöhen. Oder die Idee, die Timeline nicht mehr chronologisch, sondern von einem Algorithmus determinieren zu lassen.
Glücklicherweise wurden diese Ideen nie implementiert. Mit diesen Features hätte man Twitter auf einen Schlag zerstört. Nicht nur das Zeichen-Limit, sondern auch gerade die unveränderliche Chronologie ist ein wesentliches Charakteristikum. Andere realisierte Konzepte wie Umfragen oder Bilderserien werden von den Usern selten benutzt und verweilen in der Belanglosigkeit. Zuletzt muss man Twitter aber auch zugutehalten, dass es das Unternehmen beinah unbemerkt ebenso geschafft hat, sinnvolle Modifikationen am Dienst vorzunehmen. Beispielsweise die Integration eines Short-Link-Service. Oder die nötigen Zeichen von Bildern und URLs nicht mehr vollständig von den verfügbaren Zeichen abzuziehen. Diese Maßnahmen waren deswegen sinnvoll, weil sie den Usern mehr Raum für ihre Gedanken gaben, aber zeitgleich den Kern von Twitter bewahrten. Zu einem spürbaren Wachstum der Nutzer hat aber keine dieser Anstrengungen geführt.
Twitter ownen!!!
Um Twitter von den Zwängen des Marktes und Übernahmen durch „böse“ Unternehmen zu beschützen, gab es in der Community schon Bestrebungen Twitter zu ownen. Unter der Hashtag #WeAreTwitter formte sich vor eineinhalb Jahren eine Initiative, welche Twitter koordiniert durch Aktienkäufe übernehmen wollte, um es danach in eine Genossenschaft umzuwandeln. Das ist eine unglaubliche Wertschätzung gegenüber dem Unternehmen. Wenn sich die eigenen Kunden um das Produkt sorgen und nicht darauf verzichten wollen, sodass sie eigenhändig Initiative ergreifen, um den Dienst langfristig zu erhalten. Die Unternehmensleitung stand der Idee jedoch sehr ablehnend gegenüber und empfahl den Aktionären das Angebot abzulehnen. Am Ende konnte sich die Initiative leider auch nicht durchsetzen, was sehr schade ist. Dieses innovative Experiment hätte beispielhaft viele Fragen beantwortet, die sich in unserer Zeit durch die fortschreitende Plattformisierung der Welt stellen.
280 Zeichen
Nun hat Twitter letzten November nach einem mehrwöchigem Testlauf das Limit von 140 Zeichen auf 280 Zeichen erhöht. Offiziell wird diese Maßnahme erneut damit begründet, den Nutzern mehr Raum für ihre Gedanken zu geben. Implizit ist darin der Wunsch nach mehr Nutzung versteckt. Besonders die deutsche Sprache wurde hier als Legitimation angeführt, dessen Vokabular und Grammatik vergleichsweise viel Platz beansprucht. Die Tweets in China, Korea und Japan verbleiben weiterhin bei 140 Zeichen, weil deren Sprache in weniger Zeichen mehr Information erlaubt. Im ersten Moment kann ich dieses Anliegen natürlich nachvollziehen. Wie oft bin ich schon daran verzweifelt, einen Gedanken zu verschicken, der ein oder zwei Zeichen zu viel hatte und der sich auf Biegen und Brechen nicht kürzen lies. Aus dieser Perspektive heraus, macht die Änderung tatsächlich Sinn. Aber ich hatte auch starke Vorbehalte gegenüber dem neuen Format. Einerseits befürchtete ich das Sterben des klassischen Tweets, andererseits müssen sich die Dinge aber auch weiterentwickeln und dürfen nicht stehen bleiben. Ich sagte mir also, gib den 280 Zeichen eine Chance.
Mittlerweile sind zwei Monate ins Land gezogen und ich konnte eine Zeit lang Erfahrungen sammeln. Während die meisten Nutzer mit den neuen Format scheinbar gut klarkommen, habe ich damit tatsächlich irgendwie Probleme. Twitter kommunizierte mit der Einführung, dass während des vorherigen Testlaufs nur 5 Prozent der User die 140 Zeichen überschritten hätten. Jetzt im Echtbetrieb kann ich das so nicht bestätigen. Ich habe mehr das Gefühl, jeder dritte Tweet reißt nicht nur die 140 Zeichen, sondern nutzt sogar die vollen 280 Zeichen aus. Für mich persönlich hat sich die Twitter Experience seitdem völlig verändert. Ich nutze Twitter selten über den Browser, sondern meistens auf dem iPhone SE mit einer App. Das iPhone SE hat eine 4 Zoll großen Bildschirm. Tatsächlich ist es so, dass ein 280-Zeichen langer Tweet, sofern er weitere Elemente wie Quotes, Link oder Bilder enthält, nicht mehr vollständig auf einen Bildschirm passt, sondern man den Tweet scrollen muss, um ihn vollständig zu lesen.
Timeline und Scrollen
Dieser Sachverhalt wird zusätzlich verstärkt, dass durch die neuen Möglichkeiten die Tweets sich auch strukturell verändern. Die User nutzen verstärkt Zeilenumbrüche und der Tweet nähert sich damit langsam der klassischen Form von Texten an. Die Twitter Experience hat sich damit aus meiner Sicht völlig verwandelt. Bislang konnte man einfach so locker flockig durch die Timeline scrollen. Der Vorgang des Scrollens musste eigentlich nie unterbrochen werden. 140 Zeichen ließen sich mit dem Auge gut und schnell erfassen. Durch die neuen Tweets muss ich das Scrollen nun unterbrechen, um „genau“ zu lesen. Ich schaffe es nicht mehr, einen Tweet inhaltlich beim Durchrauschen zu erfassen. Das Scrollen an sich ist vielleicht der wesentlichste Baustein der Twitter Experience. Durch das Scrollen werden nicht nur Inhalte verschoben, Scrollen ist wie ein Schieberegler der Nebenläufigkeit und versinnbildlicht das Durchrauschen der erweiterten Realität.
Ich nutze übrigens Tweetbot als Twitter Client. Die App ist für iOS und MacOS verfügbar, sodass ich auf iPhone, iPad und MacBook in einheitlicher Weise lesen kann. Ich habe mir Tweetbot so konfiguriert, dass sich mein Lesefortschritt der Timeline über die verschiedenen Geräte hinweg synchronisiert. Das heißt, wenn ich auf dem iPhone die Timeline bei Tweet X schließe und fünf Stunden später auf dem iPad die Timeline wieder öffne, dann startet meine Timeline genau dort, wo ich aufgehört habe, bei Tweet X. Deswegen geht mir auf Twitter auch nie etwas verloren. Ich hänge also immer ein wenig in der Vergangenheit fest und scrolle meine Realität nach oben der Gegenwart entgehen. Ich scrolle immer nur nach oben. Mitunter auch deswegen nutze ich Twitter selten im Browser. Dort scrollt man in die Vergangenheit zurück von oben nach unten. Für mich fühlt sich das komisch an. Ich möchte lieber nach vorne blicken und mir dabei eine echte Chronologie auferlegen.
Das neue Format greift in den Prozess des Scrollens aber eigentlich noch viel stärker ein. Ich scrolle von unten nach oben. Dies widerspricht erstmal der Logik des Lesens, weil Texte umgekehrt gelesen werden. Sofern ein 280-Zeichen-Tweet nicht mehr auf einen Bildschirm passt, muss das Scrollen zweimal unterbrochen werden. Erst scrollt man den Tweet ganz normal von oben herein. Lesen kann man den Tweet jedoch erst, wenn der Beginn des Tweets auf dem Bildschirm ist. Aber wenn der Tweet nicht vollständig auf den Bildschirm passt, ist der Schluss natürlich schon wieder außerhalb des Bildschirms, wenn der Anfang sichtbar ist. Also muss man das Scrollen nach Oben anhalten und wieder ein paar Zeilen zurück scrollen. Wenn man den Tweet dann gelesen hat, muss man erneut das Scrollen unterbrechen und wieder nach oben scrollen. Synonym zum Scrollen wird ebenso der Lesefluss gestört. Ich würde nicht so weit gehen, dass Twitter nun unbenutzbar für mich wäre, aber es hat schon spürbar Charme verloren.
Der Kern von Twitter
Eigentlich habe ich schon lange das Gefühl, im Wesentlichen ist Twitter fertig-gebaut. Und das ist gut so. Denn so wie es ist, ist es gut. Wenn ich darüber nachdenke, fielen mir dennoch Möglichkeiten ein, um Twitter weiterzuentwickeln, ohne den Kern von Twitter zu verwässern. Warum nicht Tweets wahlweise auf einer geographischen Landkarte visualisieren und damit mehr lokale Vernetzung zu ermöglichen? Um dem Sachverhalt zu begegnen, dass man manchmal einen Tweet einfach nicht von 143 auf 140 kürzen kann, könnte man jedem User vier längere Tweets im Monat zustehen. Auch eine generelle Erhöhung auf 180 Zeichen hätte die Core Twitter Experience nicht wesentlich verändert. Bei den unhandlichen Listen könnte man auch noch was machen. Und ich wünsche mir schon lange einen navigierbaren Realtime-Graphen der gerade verwendeten Hashtags, um besser eine Gefühl für den Puls des Augenblicks zu entwickeln.
Ich weiß nicht, wie es mit mir und Twitter weitergeht. Wenn ich die Timeline öffne, spüre ich eine schleichende Entfremdung. Ich glaube, 280 Zeichen waren erst der Anfang. Twitter als Unternehmen bleibt weiter in den bestehenden Zwängen gefangen. Und weil Twitter so ist wie es ist, wird Twitter weiterhin versuchen, diese Zwänge durch Annäherung an andere soziale Netzwerke aufzulösen, anstatt seinen eigenen Weg zu gehen. Der Dienst verliert dabei fortlaufend seinen Charakter. Man hat beinah das Gefühl als wolle Twitter nicht mehr Twitter sein. Gerade vor ein paar Tagen hat das Unternehmen die Funktion der Threads gelauncht. Ein Thread erlaubt die Verkettung von Tweets, um längere Gedankengänge zu veröffentlichen. Jede Neuerung zielt letztendlich darauf ab, mehr Platz für Ausdruck zu schaffen. Dieses Streben wirkt aber dem eigentlichen Kern von Twitter entgegen. Der Kern von Twitter besteht in seiner Limitierung und der Konzentration auf das Wesentliche. Durch diese Begrenzung und den damit entstehenden Konflikt entsteht eine ungeheure Kraft. Diese Kraft geht langsam verloren. Irgendwie löst sich Twitter in kleinen Schritten auf und das ist traurig.
Hey,
hattest du nicht auch mal so Twitter-Schablonen geschrieben?
LG
Heike
Ja, das war dieser hier.
Besser Tweeten mit Schablonen
Vielleicht mache ich dazu noch mal einen Nachfolgebeitrag mit neuen Schablonen (sofern Twitter vorher nicht die Luft ausgeht). ;-)
Twitter hatte ich auch mal oder besser gesagt, Twitter hatte mich eine Zeit lang in seinem relativen Griff. ;-)
Wohlgemerkt habe ich mit Twitter angefangen als ich schon ein paar Jahre mit dem bloggen dabei war, wie du das selbst schön beschrieben hast im Text. Dann irgendwann nach der kurzen Phase von Euphorie gegenüber des Neuen wurde ich zunehmend unzufrieden mit Twitter, alleine schon die andauernd wiederkehrende Bevormundung in Form von Updates die „Verbesserungen“ in die Timeline brachten die ich nicht wiederufen konnte steigerten immer mehr meine Abneigung.
Irgendwann war mein persönliches Maß dann voll und ich kündigte mein Konto bei Twitter, dabei dann davon genervt das jener Vorgang nur durch Wartezeit seine Vollständigkeit erlangte nach X Tagen. Schlussendlich war mein Twitter Konto dann gelöscht und ich kam zu der kuriosen Erkenntnis das ich zwar kein Twitter wollte, dennoch genau jene Möglichkeiten was Twitter mir bot.
Also begann eine Suche für mich nach möglichen Alternativen in der Hinsicht, die mir extra dafür 2 eingens erstellte Blogprojekte einbrachte und darüber hinaus in den folgenden Jahren mich zu GNUSOCIAL und DIASPORA sowie MASTODON führte. Geblieben von all diesen sozusagen Zwischenstation ist letztendlich das was ich schon davor und währenddessen tat sowie bloggen nannte. ;-)
Zeitweise fand ich das P2 Theme für WordPress sehr genial, doch aufgrund meiner Abneigung gegenüber von Sidebars bei eigenen Projekten sowie der nicht mehr stetigen Weiterentwicklung des Theme wurde das Projekt irgendwann dann eingestampft. Dann kam GHOST und wurde als die Alternative zu WordPress gehandelt, eine Weile auch von mir bis immer offensichtlicher für mich wurde wie arg GHOST im Funktionsumfang hinter WordPress zurück blieb und wohl noch sehr lange bleiben würde.
Zwischendurch hatte ich mal mit Kirby CMS und dergleichen angebandelt, jedoch relativ schnell wieder die Finger davon gelassen weil entweder zu teuer da geschlossenen Community oder generell nichts für mich wegen fehlender gewohnter Funktionen. Gnusocial.de war zeitweise dann wieder aktiv in meinen Fokus gerückt, was jedoch nie länger als ein paar Tage anhielt.
Aktuell beobachte ich die Entwicklung von HubZilla, was vielleicht zugänglicher wird als Gnusocial.
Letztendlich bin ich bei dem geblieben was ich mit den Jahren zu schätzen gelernt habe, nur nenne ich das nicht mehr bloggen denn dafür müssten die Kommentare deaktiviert werden damit der ursprüngliche Sinn des „Web Log“ erfüllt wäre. Denn das damalige jungfräuliche WordPress hatte gar keine Funktion für Kommentare und die Blogs die damit liefen auch gar keinen Bedarf dafür, bis Matt Mullenweg irgendwann daher kam und sich alles einverleibte sowie zu dem entwickelte was heute als WordPress bekannt wie verhasst ist. ;-)
Lediglich unterteile ich meine Artikel auf 2 Webseiten, während auf der einen Webseite die längere Artikel jenseits von 500-1000 Wörtern sich befinden erscheinen auf der anderen Webseite jeweils Artikel mit einem Gehalt von ein paar Zeilen bis hin zu um die 300 Wörtern.
Interessanterweise bietet ein 3rd-Party-Client einen gewissen Schutz gegen Störungen der Timeline. Ich nutze ja Tweetbot. Tweetbot liefert die Timeline ohne Manipulation aus. Das heißt, keine Sponsored Tweets, keine Unterbrechungen wie „Falls du es verpasst hast“ oder „Wem Folgen“. Die Timeline ist tatsächlich noch AS-IS. Bleibt nur die Frage, wie lange noch.
Funktional betrachtet gibt es ja schon einige Alternativen zu Twitter. Aber diese Alternativen gehen leider ins Leere. Weil der wahre Wert einer Plattform sich in der Größe des Netzwerks ausdrückt. Was nutzt ein schönes Mastodon, wenn es nur wenige Menschen nutzen. Ich schaue mir zwar meistens interessehalber die Konkurrenz an, aber nutze sie nicht weiter. Die großen Netzwerke sind aus meiner Sicht leider alternativlos.
Hier müssen „wir“ uns wirklich noch etwas ausdenken. Immerhin konnte ich für mich zumindest das Problem der Daten lösen, in dem ich mir ein WordPress Plugin erstellt habe, welches meine Tweets periodisch von Twitter nach WordPress kopiert. Damit habe ich immerhin mal alle meine Kürzesttexte unter eigener Kontrolle und wäre (wenigstens theoretisch) in der Lage, sie in ein anderes Netzwerk zu laden.
Über WordPress lasse ich ja kommem. ;-) WordPress kann jeder nutzen und so konfigurieren wie er es mag. Kommentare kann man ja auch einfach ausschalten. Ich habe meine verschiedenen Formate nicht mit eigenen Blogs separiert, sondern bin den umgekehrten Weg gegangen und verteilte Inhalte hier auf diesem Blog konsolidiert, jedoch in eigene „Streams“ aufgeteilt. Das macht es für mich einfacher (und für den Besucher auch, denke ich).
HubZilla und GNUsocial kannte ich übrigens noch gar nicht. Danke für den Hinweis. Diese Projekte schaue ich mir mal.